11. Dezember
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Der Nachtunk
Von Levin Junker
Gesprochen von Bryan Cain
Der Regen prasselte gegen das Fenster. Kollin lag in seinem Bett. Trotzig versuchte er, gegen seine Müdigkeit anzukämpfen. Er hatte Mama zum Abschied gesagt, er könne nicht einschlafen, bevor sie ihm eine Geschichte erzählte.
Sie hatte ihm durch die Haare gewuschelt und ihm zugeflüstert: »Nicht heute mein Schatz.« Sie wirkte traurig.
Allerdings reden Eltern mit ihren Kindern nicht gerne über Dinge, die sie traurig machten. Aber er wusste, dass es an dem Monster lag. So nannte er die Maschine, die brummend, zischend und flüsternd neben seinem Bett stand. Sie war mit mehreren farbigen Drähten an seinem Körper befestigt.
Beim Anschließen der Maschine hatte der Arzt ihm erzählt: »Wenn etwas in deinem Körper vergisst, was es zu tun hat, dann merkt es die Maschine und weckt es wieder auf.« Anschließend hatte er sein Lächeln ausgezogen, wie eine Maske und sich mit Mama unterhalten. Sie hatte geweint, ihm jedoch immer wieder einen stolzen Blick zugeworfen. Sie sagte ihm, wie stark er sei und wie viel Glück sie als Mutter habe. Sie hatte ihm diesen Blick geschenkt, als sie aus der Tür verschwand - vor einer Ewigkeit.
Kollin hatte sich seit diesem Moment nicht bewegt. Er lauschte und versuchte, die Melodie zu erfassen, die der Regen und der Wind erzeugten. Kollin versank zusehends in ihr und ließ sich von ihr aus diesem Bett tragen, das er noch nie aus eigener Kraft verlassen hatte. Sie trug ihn aus dem Fenster, bis zu dem Arzt, bei dem Mama saß und weinte.
Er gab ihr einen Kuss und sagte: »Mama, du musst nie wieder traurig sein.«
Dem Arzt drückte er das Monster in die Hand und sagte: »Mich hat es lange genug beschützt. Die da drinnen wissen jetzt, was sie machen müssen.«
Der Arzt war verwirrt und schaute ungelenk auf sein Klemmbrett. Seine Mutter nicht, denn sie hatte gewusst, dass alles gut sein würde.
Dann schwebte er zum nahegelegenen Wald. Er sah ihn zum ersten Mal mit eigenen Augen. Er flog über die Baumkronen hinweg und tauchte dann in sie ein. Ein Hirsch reckte den Kopf und sah ihm zu, wie er über dem Boden dahinglitt, getragen von der Melodie des Waldes. Kollin sog den Duft durch seine Nase, er fühlte sich so frei, so etwas hatte er noch nie gerochen.
»Kollin« rief eine Stimme. Er drehte sich in die Richtung und sah ein Kaninchen am Waldboden. Es blutete am Bein und erstaunlicherweise redete es mit ihm.
»Hallo Herr…« Mama hat ihm beigebracht, Erwachsene immer mit »Herr« und »Frau« anzusprechen, da dies zum guten Ton gehöre. Aber war das Kaninchen überhaupt erwachsen? Er beschloss nochmal zu beginnen: »Hallo liebes Kaninchen…«, Kollin stockte. Woher kannte ein sprechendes Kaninchen, dem er zuvor noch nie begegnet war, seinen Namen?
Das Kaninchen schien seine Fragen zu erahnen, denn es begann mit einer freundlichen und zugleich verschwörerischen Stimme zu reden: »Kollin, könntest du ein Geheimnis für dich behalten?«
Kollin überlegte. Hatte er jemals ein Geheimnis vor seiner Mutter gehabt? Ja. Jedes Jahr suchte er mit Oma ein Geschenk für Mama aus. Das Geheimnis behielt er bis zu ihrem Geburtstag für sich, egal wie sehr seine Mama versuchte, ihn mit Fragen zu löchern, denn Mama konnte Überraschungen nicht abwarten. »Ja«, sagte er und war gespannt, was das Geheimnis sein würde.
»Kollin, ich bin kein einfaches Kaninchen, ich bin der Nachtunk dieses Waldes, ein Wesen, das diesen Wald beschützt und für ihn sorgt und weil die Menschen auch mal Bewohner des Waldes waren, sorge ich ebenso für sie. Ich bringe ihnen nachts Träume und passe auf sie auf.«
Kollin drehte sich vor Erstaunen einmal in der Luft und schwebte näher an das Kaninchen heran. »Du willst mir sagen, alles, was ich nachts träume, schickst du mir?«
»Ja, du hast es erfasst.« Das Kaninchen hob das Bein. »Gestern hat mich ein Jäger getroffen, weil er mich für einen Hirsch gehalten hat.«
Wenn Kollin vorher noch nicht verwirrt war, dann war er es spätesten jetzt. »Für einen Hirsch?«
Das Kaninchen antwortete nicht, denn dort, wo es zuvor gesessen hatte, stand jetzt ein riesiger Hirsch.
Kollin traute seinen Augen nicht. »Du kannst dich verwandeln?«
»Ich kann jedes Tier sein, das ich sein will. Manchmal möchte ich, dass die Besucher den Wald erkunden.« Der Hirsch wurde zu einem wunderschönen weißen Reh. »Dann locke ich sie in den Wald hinein. Manchmal muss ich den Wald beschützen.« Die Stimme des Rehs wurde tiefer und vor ihm stand ein gewaltiger Braunbär.
Vollkommen erstaunt fragte Kollin: »Warum hast du mich gerufen?«
»Ich kann meine Wunde nicht alleine verarzten. Ich dachte, vielleicht hilfst du mir dabei?«
Kollin atmete auf. Nichts leichter als das, denn unzählige Male hatte er die Wunden an seinem Körper verarztet. So holte er sein Verbandszeug hervor, das er immer umgeschnallt hatte, und schwebte an den Nachtunk heran, der sich in einen Affen verwandelt hatte. Kollin schmierte die Wundersalbe von Mama auf die Wunde und legte den Verband darüber. Nach ein paar geübten Handgriffen lag der Verband fest um das Bein des Affen.
Der Affe gab einen Freudenschrei von sich und schaute zu Kollin auf. »Wieso bist du so gut darin?« fragte er.
»Ich war krank bis gerade eben. Sehr krank, deshalb weiß ich, wie man Wunden versorgt. Aber jetzt fühle ich mich super.« Kollin drehte einen Salto in der Luft, um seine Aussage zu untermauern.
»Kollin, ich wusste das nicht. Ich tue für dich, was ich kann. Und vielen Dank für deine Hilfe,« sagte der Affe und rieb sich zärtlich an Kollins Bein.
Kollin erwachte in seinem Bett. Mama und der Doktor saßen an der Bettkante und sahen ihn an. Das Monster war noch da, aber es hatte aufgehört zu zischen. Mama weinte und der Doktor sah ratlos aus.
Nein. Mama sah glücklich aus. »Ein Wunder mein Schatz, ein Wunder. Du bist gesund,« sagte sie und drückte ihn fest an sich.
»Das war der…« Kollin verkniff sich die folgenden Worte, als ihm sein Versprechen einfiel. Vielleichte hätte er es in der Aufregung vergessen, wenn nicht eine Taube am Fenster gesessen und ihm zugezwinkert hätte….