13. Dezember

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Der Saumkönig

Von Hannah Rathke
Gesprochen von Claus Weyers

Es war auf einem Markt für Singvögel. Tausend kleine Käfige mit tausend kleinen Vögeln. Und dazwischen die Kinder, die schrien. 
Über dem Lärm schimpfte einer der Händler auf einen kleinen Vogel ein: »Hab ich dich zum Schweigen gefangen?«
Es war ein Saumkönig, ein Vogel der Hecken und Waldränder, ein armes kleines Geschöpf. Die Krone hing dem Tier schlaff herunter, die Augen blickten in die aufgesperrten Münder, die ihn anschrien.
Die Kinder begannen den Käfig zu umringen. Das Tier war klein und zausig, doch es hatte Angst und das zog die Bengelbande an.

»Sing kleiner König,
sing kleiner König,
sing, sing, sing, sing!«
rief und sang die Menge im Chor.

»Sing von den Wäldern,
sing von den Feldern,
sing von den Hecken,
sing von den Schrecken,
sing von den Freuden,
sing von Gebäuden,
sing kleiner König,
sing kleiner König,
sing uns was vor!«

Der Saumkönig öffnete eines der kleinen Äuglein und starrte in die feixenden Kindergesichter. Dann klackte sein Schnabel. Doch er sang nicht. Er schimpfte.

»Singen soll ich?
Wovon soll ich den singen?
Saß drei Tage im Käfig,
hab nur Stäbe gesehen!
Singen soll ich?
Wovon soll ich denn singen?
Saß drei Nächte auf Eisen,
hab gezittert und gefroren!«

Da trat einer vor, der hatte Aschehaare. Seine Hände waren flink, seine Füße noch flinker. Er packte den Käfig und flitzte samt König davon.
»He!«, brüllte der Händler. Die Bengelbande johlte auf und stürmte dem Königsdieb hinterher.

In hellem Licht vor der Stadt lagen die Felder und heckengesäumten Wege. Auf einem Stein am Wegrand stand ein leerer Vogelkäfig, viel zu klein, für seinen ehemaligen Insassen. Dieser hockte kläglich, aber glücklich auf den Zweigen eines Schlehenbusches.
»Nun weiß ich nicht, ob du dich bei mir bedanken solltest.«, meinte Silf mit den Aschehaaren betrübt. »Sieh dich an. Die Flucht hat dich mehr mitgenommen als mich. Frei bist du zwar, aber verletzt scheinst du mir. Gleich hätte ich dich aus deinem Gefängnis lassen sollen, anstatt dich hierherzubringen. Jetzt sind deine stolzen Federn zerknickt. Von der Krone ist ja kaum noch was übrig. Dass ich Taugenichts auch fortlaufen musste, als wärest du ein gestohlener Laib Brot!«
Der Saumkönig tippelte vorsichtig auf seinem Zweig, versuchte die Krone zu richten und tschilpte dann höchst unzufrieden. Zumindest kam es Silf mit den Aschehaaren so vor. 
»Kannst du wegfliegen?«, fragte er hoffnungsvoll.
Der Saumkönig blinkerte ihn an. Dem kleinen Vogel war noch schwindlig von der Flucht und das Einzige, was er wollte, war den sicheren Schlehenast mit seinen Zehen zu umkrallen. Er brachte es nicht einmal heraus, dem Aschehaarigen zu tschilpen, dass dieser aufhören sollte, sich leidzutun. Schließlich waren es nicht seine Federn, die verbogen und verdreckt worden waren. Von der verknickten Krone ganz zu schweigen. Die geschundenen Beinchen, die zerkratzten Zehen, der gestoßene Schnabel. Dem Saumkönig hatte es die Stimme verschlagen.

Immerhin schien Silf zu merken, dass etwas nicht stimmte, denn er verstummte in seiner Litanei der Trübseligkeit.
Eine ganze Weile blieb es still zwischen den beiden.
Endlich öffnete der Saumkönig den Schnabel.
»Komm«, zirpte er. »Lass uns Wasser suchen.«
Und bevor Silf sich in seiner Überraschung zurechtgefunden hatte, war der kleine König ihm mit einem Flattersprung auf die Schulter gehüpft und schnäbelte aufmunternd mit dem Ohrläppchen unter den Aschehaaren.
Da machte sich ein zartes, überwältigendes Glücksgefühl in Silfs Fingerspitzen breit und überzog ihn inwendig mit einem goldenen Schimmer.
»Na, dann los.«
Und er ging beschwingt, aber doch vorsichtig. Mit einem Gefühl, als würde er zehn Zentimeter über dem Boden schweben.

Sie fanden eine Pfütze für den Saumkönig. Der kleine Tschilper schüttelte seine Flügel und spritzte mit dem Wasser, dass Silf lachen musste. »Nun hast du zwar keinen Durst mehr, aber dafür habe ich Hunger.«

Der Saumkönig zwinkerte mit seinen schwarzen Augen. Noch einmal schüttelte er die Tropfen aus dem Gefieder, dann kehrte er auf seinen Schulterplatz zurück. »Du hast mich zum Wasser gebracht, ich bringe dich zum Essen.«, tschilpte er.

»Ach ja? Du kleiner Tschilper?«
Die Krone saß dem König frech auf dem Kopf. »Steig auf den Hügel dort drüben. Dann wirst du schon sehen!«

Sie stiegen bergan. Tschilper zwitscherte an Silfs Ohr. Er schien bester Laune zu sein. 
Oben angekommen legte sich das Mosaik des Landes ihnen zu Füßen. 
Silf breitete die Arme aus und Tschilper stieg in die Luft.
»Sing mein Kleiner!«, rief Silf voller Lebensfreude.
»Sing!«
Und Tschilper sang. Der Saumkönig sang, als sollte es niemals Nacht werden. Er stand vor dem Himmel und sang von den Bohnen, die in der Erde schlummerten. Er sang von den Händen, die sie ausgruben, die Schalen knackten, die Früchte stampften. Er sang vom Mus, das cremig unter den Mahlsteinen hervorquoll, wenn man das Mehl mit Wasser vermengte. Er sang bis Silf den schweren Geschmack auf der Zunge spürte. Die kleinen Stückchen zwischen den Kauflächen knirschten. Tschilper sang, dass Silf schlucken musste, so voll war sein Mund und die wohlige Sattheit breitete sich golden in ihm aus. Golden wie das Mus der Bohnen, das Tschilper für ihn herbeisang. Die Intensität des Geschmacks stieg ihm bis in die Nase, kribbelte, bereitete ihm beinahe Kopfschmerzen. Das Mus war so zäh klebrig, dass er es erst mit Spucke ganz herunterschlucken konnte und schon war der Mund wieder gefüllt. 
Da hob Silf die Hand. 
Tschilper landete, tschilpte fröhlich und stellte sein Krönchen auf. 
Dann blickten sich die beiden Freunde an.
»Bohnenbutter?«, war das erste, dass er hervorbrachte.
»Bohnenbutter«, bestätigte der Saumkönig stolz. 
»Ich liebe Bohnenbutter.« 
Silf schluckte. Der köstliche Geschmack war noch nicht verschwunden. 
»Weißt du«, sagte er zum Saumkönig, »Zufälligerweise schmeckt deine Bohnenbutter so gut, dass ich sie jeden Tag essen könnte.«
»Könntest du?«, sang Tschilper. 
»Allerdings.«
Silf lächelte in sich hinein, als er den Hügel hinunterging. Tschilper schoss durch die Luft und sauste dann an ihm vorbei, der Flügelschlag zischte an seiner Wange. Goldene Tage lagen vor ihm.