16. Dezember

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Die Wesen im Garten

Von Kathrin Ringeisen
Gesprochen von Ralf Zimmer

Leise wispern nachts die Stimmen
Flirren mit dem sanften Wind
Lassen sich zu jenen tragen
Die wach genug zum Träumen sind

»Träum‘ mit uns und sieh die Lichter
Atme uns’re weite Luft
Spitz‘ mit Staunen deine Ohren‘
Und horche ganz still, wer da ruft«


Mira und Riccardo waren im Kinderzimmer und schauten dem Regen zu, der an den Fenstern hinunterlief und auf die Veranda niederprasselte. Es tropfte von den Bäumen.
Mira öffnete die Tür zur Veranda und zeigte mit dem Finger in die Wiese. »Da drüben leuchtet es«, sagte sie.
Riccardo lief ihr nach draußen hinterher.
Tropfnass und kalt waren sie nach wenigen Sekunden, doch Mira hatte sich längst zu den kleinen Lichtpunkten gekniet, die wie Glühwürmchen durch das Gras hüpften. Riccardo schaute ihr zu, wie sie mit ihren Händen eine Schale formte. Schon nach kurzer Zeit begann das Licht sich in ihren Händen zu sammeln.
»Komm her, Riccardo!«, wisperte sie.
Er kniete sich zu ihr.
»Siehst du das? Die sind lebendig!«
Mira hatte recht. Die Lichtpunkte gehörten zu kleinen Gestalten, die dort im Gras herumflatterten. Aus der Nähe betrachtet schillerte das Licht in allen Regenbogenfarben. Die kleinen Gestalten waren auch bunt und bewegten sich hin und her, vor und zurück.
Als sie so ganz nah an den Wesen dran waren, hörten sie auch die Stimmen, die sich wie ein summender Teppich um sie herumlegten. Ein vielstimmiger Gesang umgab sie, so hell und bunt, wie die Wesen aussahen, war auch ihr Klang. 

»Wir sind die Nachtgeister,
Wir sind die Nachtgeister,
Kommt mit uns und träumt mit uns!
Kommt mit uns und träumt mit uns!«

»Nachtgeister!«, raunte Riccardo. Er bekam den Mund vor Staunen gar nicht zu.
Mira grinste verschwörerisch.
Ein einzelnes der Geisterwesen, eines das blau schimmerte, erhob sich in die Luft, sodass es vor Miras und Riccardos Gesicht schwebte.
»Folgt uns in die Welt der Wunder!«, rief es mit heller Stimme.
Sodann erhoben sich auch die anderen Nachtgeister aus der Wiese, sirrten bunt durcheinander und bildeten eine Art Weg, vom Boden gen Himmel, und sangen weiter ihr Lied.

Das blaue Geisterwesen winkte Mira und Riccardo hinter sich her und flog voran entlang des Weges. Mira und Riccardo nahmen sich an der Hand und gingen hinter ihm her. Ehe sie sich’s versahen, machten ihre Füße Schritte in der Luft. Wie auf unsichtbaren Treppenstufen stiegen sie über die Blumenbeete, am Apfelbaum vorbei dem Himmel entgegen, um sich herum die schillernden Nachtgeister. Bald schon waren sie den Baumwipfeln näher als den Lichtern, die sie aus der Küche und dem Kinderzimmer des Hauses sehen konnten. So stiegen sie immer weiter in die Luft, hoch über das Dorf und den Wald. Bald teilten sich die Wolken und am Horizont leuchtete matt und groß der gerade aufgegangene Mond. Die Kinder und die Nachtgeister hielten an. Die Nachtgeister formierten sich unter Summen und Singen zu einem Bogen. Innerhalb des Bogens begann die Luft bunt zu flimmern. Mit großen Augen sahen Mira und Riccardo zu, wie das Licht sich wandelte, es wurde kleiner und größer, heller und dunkler.

Nach und nach flogen die Nachtgeister nun in den Lichtbogen hinein. Riccardo schaute etwas unsicher zu Mira, die aber schaute mit lachenden Augen auf die Welt unter ihnen und zu der Welt hin, die im Bogen auf sie wartete.
»Komm, Riccardo, das wird ein Spaß!«
Und so folgten die beiden den Nachtgeistern. Gleich kam es Mira vor, als könne sie fliegen. Sie breitete die Arme aus, lehnte sich nach hinten und ließ in einem freudigen Rückwärtssalto Erde und Himmel durch ihren Blick wandern, bevor sie in den bunten Bogen hineinflog. Riccardo tat es ihr nach, drehte sich mit ebenso gestreckten Armen um die eigene Achse und wirbelte zwischen den Nachtgeistern in das silberne Licht. Beide landeten auf festem Boden.
»Willkommen in unserer, willkommen in eurer Welt!«, rief das blaue Wesen ihnen entgegen. »Solange ihr träumt, könnt ihr hier weilen, sobald ihr wollt, könnt ihr gehen.«
Mira schaute sich um. Eine wohlige Wärme umgab sie, und sie verspürte ein Gefühl von Weite, das ihr zuvor fremd gewesen war. Ihr war, als könnte sie zugleich alles und nichts sehen und mit einem Wimpernschlag wurde aus einer Wiese eine Wüste oder ein Wald mit allem, was darin lebte. Riccardo lauschte. Er hörte die Nachtgeister singen, konnte jedem einzelnen in seinem Lied lauschen oder allen gemeinsam. Er fühlte die Energie in sich vibrieren und sein Körper wollte sich bewegen und so rannte er. Und mit ihm eine ganze Wolke der Nachtgeister.
Wo er anhielt, sah er andere Wesen. Eichhörnchen, eine Oma, die strickte, andere Kinder. Er rief nach Mira: »Komm her, schau, wen ich gefunden habe!«, und Mira kam grinsend und keuchend angelaufen. Ihr Großvater saß auf einer hölzernen Gartenbank am Wegesrand.
»Opa, es ist so schön hier!«, rief Riccardo.
Ihr Großvater lächelte verschmitzt: »Mir gefällt es hier auch. Passt gut auf, dass ihr es nicht verlernt, zu träumen!«
Mira nickte eifrig, während Riccardo schon auf der Lehne der Bank balancierte.
»Und hier ist alles möglich! Ich habe Zauberwesen gesehen!«, fügte Mira hinzu. Der Großvater nickte: »Ja, das stimmt. Und lasst euch gesagt sein, nicht nur hier ist Vieles möglich.«
Riccardo zog den Großvater mit beiden Händen von seiner Bank herunter. »Komm, wir schauen uns weiter um!«
»Mit Vergnügen!« Der Großvater lächelte und die drei wandelten gemeinsam über die Wiesen und durch die Wälder dieser wundersamen Welt, immer umgeben von einer Wolke der Nachtgeister. 
Als in der Ferne rosafarben die Dämmerung aufzusteigen begann, sagte der Großvater: »Kinder, bald ist es Zeit, zurückzugehen. Auf der Erde wartet ein neuer Tag. Kommt wieder, solange ihr träumen könnt!«
Riccardo nickte gewissenhaft und Mira bedankte sich bei dem blauen Wesen für die Reise.
»Stürzt euch zurück, so wie ihr mögt«, wies es die beiden an. »Und kehrt zurück, so ihr vermögt!«
Mira und Riccardo fassten sich an den Händen und sprangen an Ort und Stelle, den Kopf zuerst, durch den Boden hindurch. Der Großvater winkte und die Welt rotierte davon.