4. Dezember
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Bänke trinken nur Monster
Von Charlotte Meyerdierks
Gesprochen von Laura Hensel
»Möchten Sie eine Tasse Tee?«, frage ich die Frau.
Sie sitzt neben mir auf derselben Bank, hält einen Plastikbeutel verziert mit orangenen Buchstaben auf dem Schoß. Ihre Haare fallen in langen schwarzen Locken, doch ihr Gesicht sieht alt aus. Die Bahnhofshalle um uns herum ist gefüllt von Menschen, die ihres Weges ziehen, niemand scheint uns zu bemerken. Nicht mehr als all die anderen Fremden. Die Geräuschkulisse ist drückend. Der Mann vor mir hat gerade seine metallene Trinkdose geöffnet, klang als würde er in einen Apfel beißen. Hat er nicht. Heutzutage sind Äpfel zu gesund, wenn sie nicht gerade auf Computer, Smartphones oder Tablets gedruckt sind. Er bevorzugt den guten Stoff, transformiert in wundervollen Fabriken. Der nächste läuft vorbei, ein Monster in der Hand. Ich bin angespannt, nur ein klein wenig. Wie eine Fremde an einem Ort, wo sie nie war, ein bisschen zu aufmerksam, was um sie herum passiert. Was passieren könnte. Eine Kaugummiblase im Mund des Typen hinter mir macht ein sanftes »plop« und er zerdrückt sie am Dach seines Mundes. Die Bank ist aus hölzernen Latten gemacht, mit Lücken dazwischen, sodass Monster auf den Boden fließen können, anstatt Seen auf der Bank zu formen. Mein Lächeln versucht die Spannung in meinem Bauch zu verstecken.
Sie schaut zu mir hoch. »Ich?« fragt sie, »Nein, alles gut.«
Sie schaut mich an, als hätte ich sie gefragt, dem Mann mit dem Kaugummi ein Messer in den Mund zu jagen. Vermutlich hätte das für sie mehr Sinn ergeben als einen Tee zu trinken, den eine Fremde, ich, ihr anbiete, umsonst. Ich weiß, dass Menschen Freundlichkeit nicht trauen. Nächstes Mal werde ich ihr ein Monster verkaufen. Aber nicht heute.
»Wie schön zu hören, dass es Ihnen gut geht«, sage ich. »Wissen Sie, ich nehme immer meinen Tee mit, wenn ich auf Reisen bin. Und ich mag es, zu teilen. Vielleicht würden Sie sich nach einer Tasse Tee noch besser fühlen?«
Ich gieße ein wenig Tee in die Tasse neben mir. Es ist eine gläserne flache weite Teetasse. Der Tee ist rot. Und heiß. Die Luft schmeckt auf einmal süß. Ich nehme die Tasse, um sie in ihre Hände fließen zu lassen. Sie hält sich noch immer an ihrer Plastiktüte fest. Erneut eine Kaugummiblase, dieses Mal vor seinem Mund, zerplatzt. Ich zucke zusammen. Tee landet auf der Bank zwischen uns beiden. Und ich lächele. Und dann, dann warte ich.
Ihre Augen haben dem verlorenen Tee auf die Bank gefolgt, ob er auch nicht ihren weit fallenden Rock gefährde. Ich freue mich, dass der Tee ihr Interesse geweckt hat. Eine Hagebutte liegt neben ihrem Schuh auf dem Boden. Die verlorenen Teetropfen sehen ruhig aus. Viel ruhiger als die Rollkoffer, Ticketmaschinen, Zugmotoren und Signalschilder. Ich genieße es, wie unsere Blicke am selben Ort ruhen. Ein Teetropfen nah ihres Rockes beginnt die alltägliche Reise. Im Bruchteil einer Sekunde fliegt er in einen größeren Tropfen, nur wenige Zentimeter daneben. Der größere Tropfen sprintet in einen noch größeren, der noch größere in den größten. Alle Teetropfen vereinen sich. Ein flüssiger Faden aus Tee schleicht sich von der Tasse her in unser Blickfeld. Ein leichtes Zucken in der Hand neben mir. Als der Faden den Tropfensee erreicht, reihen sich Tropfen für Tropfen aus dem See wieder ein auf ihren Plätzen am Ende des Fadens. Und der Tee klettert zurück in die Tasse. Denn Bänke trinken nur Monster, keinen Tee. Unsere Blicke kreuzen sich. Ganz langsam nehme ich ihre Hand und Finger für Finger schließe ich sie um die Tasse. Sie atmet ein, den Duft, den Lärm, die Stille. Und sie beginnt zu trinken, ihre Augen geschlossen um den Tee. Noch einmal greife ich rüber, und schließe meine Hände um ihre Plastiktüte. Sie wird sie nicht mehr brauchen.