4. Dezember
Inhalte von Youtube werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf “Zustimmen & anzeigen”, um zuzustimmen, dass die erforderlichen Daten an Youtube weitergeleitet werden, und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in unserer Datenschutz. Du kannst deine Zustimmung jederzeit widerrufen. Gehe dazu einfach in deine eigenen Cookie-Einstellungen.
Zum Hören bitte Bild anklicken!
Mein Weihnachtswunder
Von Sabine Reifenstahl
Gesprochen von Constanze Buttmann
Das erste Weihnachtsfest ohne meinen Mann. Es vergeht kein Augenblick, ohne mir zu wünschen, er wäre noch da – oder ich bei ihm. Alles, nur nicht dieses Leben allein.
Tränen rinnen mir übers Gesicht. Ich kann nicht in unserem Haus bleiben, wo wir so viele gemeinsame Weihnachtsfeste gefeiert haben, sondern fliehe vor dem nun leeren Heim und fahre an einen Ort, dem für uns stets eine besondere Magie innewohnte. Kap Arkona, der nördlichste Zipfel von Rügen. Als ich am Rand der Steilküste ankomme und aufs Meer hinausblicke, scheint mir Andrej näher als irgendwo anders, und ich spüre weniger Traurigkeit.
Auf den Bäumen glitzert Raureif. Sonnenstrahlen brechen sich in den Eiskristallen und lassen jene gleich Brillanten funkeln. Die Ostsee liegt wie ein Spiegel unter mir und verströmt Ruhe. Ich atme tief ein und setze einen Fuß vor.
Eine leichte Brise streicht über die Wasseroberfläche. Wellenkämme reflektieren das Licht und scheinen mich zu locken mit dem Versprechen auf Vergessen.
Unwillkürlich mache ich einen weiteren Schritt, verharre ein Stück vom bröckeligen Rand entfernt und richte die Augen auf den Horizont. Dabei denke ich an ein Ereignis zurück, als wir an dieser Stelle mitten in ein Unwetter gerieten. Ich wollte schnellstmöglich zurück ins Hotel, doch Andrej hielt mich fest und deutete auf die regenschweren Wolken. »Wir lassen uns diesen Tag nicht vermiesen!«, brüllte er trotzig gegen den Sturm an. Eine Böe rupfte mir den Schal vom Hals. Geschickt fischte er das bunte Tuch aus der Luft und schüttelte triumphierend die Faust.
Dieser Rückblick bringt mich zum Lächeln. So war mein Mann. Stets kämpferisch und optimistisch, mein Halt zu jeder Zeit. Ohne ihn hat die Welt ihre Farbe verloren. Der berückende Anblick des blauen Himmels und der funkelnden Winterpracht prallt von meinem einsamen Herzen ab wie von einem Eisklumpen. Ich fühle mich allein und vom Frost zu einer reglosen Statue gefroren.
Krampfhaft wische ich mir übers Gesicht und nähere mich der Steilküste weiter. Du fehlst mir so!
Nieselregen setzt ein, vermischt sich mit winzigen Eiskristallen. Kühl netzen sie meine Wangen und sinken lautlos zu Boden. Ich trete von einem Bein aufs andere, lausche dem Rascheln des herabgefallenen gefrorenen Laubes unter den Stiefelsohlen und beobachte das sachte Flockenspiel. Wassertröpfchen reflektieren das Sonnenlicht und zaubern einen bunten Farbenreigen in die Luft.
Fasziniert verfolge ich, wie ein Regenbogen an Pracht gewinnt, sich über den Himmel spannt und dabei an eine Brücke erinnert.
»Ein Wunder!«, höre ich eine Stimme hinter mir und fahre herum.
Ein als Weihnachtsmann verkleideter Fremder steht einige Schritte entfernt. Unter dem schlohweißen Bart gewahre ich ein Lächeln. Mein Herz setzt aus, als ich dem Mann in die Augen blicke. Sie lassen den Eispanzer aufbrechen, der mein Herz umklammert.
»Komm vom Rand weg!« Eine weiß behandschuhte Hand streckt sich mir entgegen.
Vertrauensvoll versuche ich sie zu ergreifen. »Bist du es wirklich?« Eiskristalle werden vom Wind aufgewirbelt und stechen mir in die Augen. Nur ganz kurz schließe ich die Lider.
Als ich sie wieder öffne, liegt die Welt hinter einem Tränenschleier verborgen. Was auch immer ich gesehen habe, es ist fort. Suchend schaue ich umher, finde weder Fußabdrücke noch sonst einen Hinweis auf die seltsame Erscheinung. Doch ich erinnere mich deutlich an die Forderung, von der Steilküste zurückzutreten und folge ihr gehorsam.
Erneut schaue ich über die Ostsee und atme tief ein. Mir ist, als könnte ich Andrejs Nähe spüren. Eine aufkommende Brise spielt mit meinem offenen Haar. Ganz so wie er es häufig tat.
»Ein Wunder«, wiederhole ich seine Worte und glaube, eine Antwort zu hören. »Das Leben ist ein Wunder!«
Der Wind wird stärker und trägt einen nur allzu vertrauten Duft heran. Trotz des kalten Wetters wird mir heiß. Ich kann meinen Mann riechen, als stünde er direkt hinter mir. Beinah spüre ich den geliebten Körper, die haltgebende Umarmung. Wie konnte ich je an seinem Versprechen zweifeln?
»Wohin ich auch gehe«, hatte er gesagt. »Ich werde bei dir sein! Wenn du an mich denkst, wirst du meine Gegenwart fühlen. Es endet nicht mit dem Tod. Unsere Seelen sind auf ewig verbunden – und sie finden stets zueinander.«
Ich bin nicht gläubig, doch ist dies nicht eine besondere Zeit? Andrej ist noch bei mir, tief eingepflanzt in mein Inneres wie ein zweites Herz. Und er will nicht, dass ich den nächsten Schritt gehe.
Irgendwo am Ende des Regenbogens wartet er auf mich. Jener leuchtet in voller Pracht und überbrückt die Entfernung zwischen meinem Liebsten und mir, vermag meinen Leib zwar nicht zu tragen, wohl aber unsere Liebe.
Ein letztes Mal blicke ich in die Tiefe. Sie hat ihren Reiz verloren.