5. Dezember

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Kalter Sturm

Von STORYoshi
Gesprochen von Achim Walz

Am Fenster des Königsschlosses stand Oyo, der gutherzige Drachenprinz, und blickte besorgt nach draußen in den wütenden Schneesturm. Oyos blaue Schuppen schimmerten im Licht des Kaminfeuers, das den Raum in wohlige Wärme tauchte. Liam, der kleine Bruder von Oyo, saß vor dem Kamin und spielte mit seinen neuen Ritterfiguren.
»Was ist los, Oyo?«, fragte Liam, als er das besorgte Gesicht seines Bruders sah.
Oyo seufzte und sagte: »Ich mache mir Sorgen um Abmis. Der Sturm ist ganz schön heftig.«
Abmis war ein Greif, etwa so alt wie Oyo, mit strahlend weißen Federn. Er lebte in einer schummrigen Höhle, nahe des Drachenschlosses. Ein liebenswerter Geselle.
»Bestimmt ist es ganz schön kalt in seiner Höhle. Vielleicht friert er«, murmelte Oyo mit wachsendem Unbehagen.
»Abmis hat doch dichte Federn. Er kommt selbst mit dieser Kälte klar«, meinte Liam.
Doch Oyos Sorge wuchs mit jeder Minute, die er in den Sturm hinaussah. Abmis war sein bester Freund und er fühlte, dass etwas nicht in Ordnung war. Eine kalte Brise in seinem Bauch.
»Ich werde nach ihm sehen«, beschloss er und legte sich seinen Schal um.
»Bist du verrückt?«, rief Liam entsetzt. »Bei diesem Sturm wirst du weggepustet!«
Doch Oyo öffnete das Schlosstor und sofort brauste eine Eisböe herein, die Liam zum Schlottern brachte. Mit einem lauten Knattern spannte der große Bruder seine Flügel auf und erhob sich in den dunklen Himmel. Der Schnee peitschte ihm entgegen und die starken Windstöße brachten ihn ins Straucheln.
Angestrengt schlug Oyo mit den Flügeln und spie einen mächtigen Feuerstrahl in den Sturm hinaus, der ihm etwas Tempo verschaffte. Schon bald gewann er die Kontrolle über seinen Flug zurück und raste in Richtung Silberwald, wo die Höhle von Abmis lag.
Oyo landete vor der Höhle und trat ein. Der kalte Wind pfiff durch den Höhlengang wie eine riesige Flöte und dicke Eiszapfen hingen von der Decke.
»Abmis?«, rief Oyo, während er sich umsah. Von dem Greifen war nichts zu sehen.
Nach ein paar Metern kam Oyo in einen größeren Raum, wo Abmis normalerweise seinen Schlafplatz hatte. Auch hier war alles vereist und in tiefste Kälte getaucht.
»Abmis?«, rief Oyo erneut, bekam jedoch wieder keine Antwort. Gerade wollte er sich umwenden und in einem anderen Teil der Höhle nachsehen, als er die ausgeblichene Gestalt in der Ecke sah.
Der Drache stieß einen kurzen Schrei aus, als er Abmis unter der feinen Eisschicht erkannte. Der Greif lag regungslos auf dem Boden, die Federn von Eiskristallen geziert, das Gesicht in Schmerzen verzerrt. Die Augen waren geschlossen und der Schnabel bläulich verfärbt.
Panisch kniete sich Oyo neben seinen Freund und legte ihm eine Pfote auf die Stirn. Von wegen dichte Federn. Sie zerbröselten fast, so gefroren waren sie.
»Nein... Nein! Abmis!«, keuchte Oyo, während sich ihm die Kehle zuschnürte. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein! War sein bester Freund wirklich dem Sturm zum Opfer gefallen?
Doch dann erblickte Oyo die winzigen, weißen Wölkchen, die sich vor Abmis‘ Schnabel bildeten. Kaum sichtbar, aber nicht zu unterschlagen. Abmis war bewusstlos und halb erfroren – aber noch nicht tot!
Oyo musste schnell handeln. Er grub seine Pfoten unter den Körper von Abmis und hievte ihn mit aller Kraft auf seinen Rücken. Eiskristalle rieselten herunter und brannten scheußlich auf der schuppigen Drachenhaut.
Im Höchsttempo stapfte Oyo aus der Höhle und breitete wieder seine Flügel aus. Mit Abmis auf dem Rücken flog er zurück in Richtung Schloss. Das zusätzliche Gewicht drückte ihn nach unten und er hatte das Gefühl, als wäre der Sturm noch stärker geworden. Doch in Oyos Innerem brannte ein neues Feuer, noch viel stärker als sein Drachenfeuer. Es gab ihm Kraft und ließ seine Flügel gegen den Sturm kämpfen. Ihm war gerade nur wichtig, Abmis ins Warme zu bringen. Ihn zu retten.
»Halte aus, Abmis! Nur noch ein bisschen!« rief Oyo, riss sich sogar den Schal ab, um ihn Abmis umzulegen. Solange er das schwache Atmen spüren konnte, war es noch nicht zu spät, was ihm noch mehr Hoffnung gab.
Oyo stolperte außer Atem und patschnass ins Schloss, über seinen Schultern der reglose Abmis.
»Was ist mit ihm?«, rief Liam.
»Er ist stark unterkühlt. Wir müssen ihn aufwärmen. Hol schnell eine Decke«, wies Oyo ihn an, während er Abmis vor den Kamin trug und ihn vorsichtig auf den Teppichboden gleiten ließ.
Liam tat wie ihm geheißen und kam kurz darauf mit einer Wolldecke wieder, die sie über Abmis legten. Beide Drachen setzten sich zu ihm und pusteten ihren feurig warmen Atem auf das feine Eis, das sich langsam aufzulösen begann. Und nach ein paar Minuten kam wieder Bewegung in die starren Glieder des Greifen. Erst zuckte er nur leicht, dann fing er immer stärker zu zittern an und leises Bibbern erfüllte den Raum.
»Abmis... So ein Glück«, flüsterte Oyo und legte seine Pfoten um Abmis.
»W-w-was... Was ist... p-p-passiert...?«, stotterte Abmis und öffnete langsam die Augen. »O... Oyo?« Ein sanftes Leuchten schien in seinem Blick, als er in das Gesicht des blauen Drachen sah.
»Alles ist gut, Abmis. Du bist in Sicherheit.« Sanft strich Oyo ihm durch die aufgetauten Federn. »Der Sturm hat dir ganz schön übel mitgespielt. Aber bald wird dir wieder schön warm sein.«
Einen Moment sah Abmis Oyo schweigend an. Dann schob er zitternd seinen Kopf an Oyos warmen Bauch. »Du hast mich gerettet? Obwohl du dafür gegen den Sturm kämpfen musstest?«, flüsterte er.
»Du bist mein Freund, Abmis. Und Freunde helfen sich gegenseitig. Selbst im kältesten Sturm«, sagte Oyo ruhig. »Ich hätte hier im Warmen bleiben können. Aber das hätte dich bestimmt dein Leben gekostet. Das möchte ich mir gar nicht vorstellen.«
Langsam machte Abmis die Augen zu, den Schnabel zu einem Lächeln verzogen. »Danke, Oyo«, murmelte er. »Vielen Dank, dass du mich gerettet hast.«
Oyo zog Abmis näher zu sich und hielt ihn sicher und warm, während Liam sich an den Bauch des Greifen kuschelte.
So lagen sie zu dritt da, geborgen und friedlich, während der Schneesturm draußen ganz langsam verstummte. Denn gegen die Wärme einer solchen Freundschaft kam selbst ein so böser und klirrend kalter Sturm nicht an.