6. Dezember
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In deinen Schuhen
Von Heather M. Kaufmann
Gelesen von Marvin Jung
Doppler-Effekt. Ein akustisches Phänomen, das auftritt, wenn Schallwellen durch die Entfernungsänderung zwischen Sender und Empfänger gestaucht oder gedehnt werden, rekapitulierte Bert im Halbschlaf. Draußen auf der Straße erreichten die Signaltöne den Höhepunkt ihrer Lautstärke und rasten tiefer und leiser werdend vorüber. Für irgendjemanden war Schluss mit lustig, dachte der Junge, wie für seinen Vater vor elf Monaten. Da hatte das Martinshorn nicht am Haus vorbei geheult, sondern davor gehalten. Rettungssanitäter waren in der Nacht in ihre Wohnung gestürmt, hinein in das beengte Schlafzimmer seiner Eltern. Und nachdem sie gegangen waren und Paps auf einer Bahre mitgenommen hatten, hatte seine Mutter so kerzengerade und reglos im Flur wie ein vergessener Koffer auf einem Bahnsteig gestanden. Ihre Tränen waren erst später gekommen, Tage nach der Beerdigung, aber sie waren geblieben. Mal sprudelten sie wie Schmelzwasser aus dem Gebirge, begleitet von unbeschreiblichen Klagelauten, oder sie quollen einfach eine nach der anderen aus ihren Augen, als hätten sie ein Leck, und tropften in ihren Schoß. Bert suchte Trost bei seiner Mutter, wollte ihr welchen schenken, aber sie wohnte nicht mehr in sich. Vielleicht war sie noch tief drinnen und ließ nur niemanden mehr hinein.
Der neue Tag war erst sechs Stunden jung. Obwohl er noch Zeit hatte, beschloss Bert, aufzustehen, um die Wohnung, von Ma unbemerkt, verlassen zu können. Er freute sich auf die Schule, denn am heutigen Nikolaustag wollten sie in der ersten Stunde wichteln. Die kleinen Geschenke hatten die Kinder hübsch verpackt und mit einer Nummer versehen schon Ende November abgegeben. Heute sollten sie verlost werden. Bert hatte sich von einem seiner kleinen Modelltrucks getrennt, der noch wie neu war, denn Ma hätte er nicht nach einem Geschenk fragen wollen. Dafür haben wir kein Geld, hätte sie nur lamentiert. Aber für deine Psychopillen, fürchtete er sich, ihr darauf zu antworten, die du wie Erdnüsse verschlingst und die dich dann in den Dornröschenschlaf knallen.
Der Boden fühlte sich unter seinen nackten Füßen an wie ein gefrorener See, als Bert ins Bad ging, aber das half, richtig wach zu werden. Weil der Boiler noch nicht vorgeheizt war, blieb es bei einer Katzenwäsche und dem Zahnschock beim Spülen mit dem eisigen Leitungswasser. Rasch zog er die Klamotten vom Vortag an, denn zum Waschen hatte sich seine Mutter wieder nicht aufraffen können. Mit etwas Glück würde er sich noch ein Marmeladenbrot für unterwegs schmieren können, hoffte er, während er leise in die Küche schlich. Er packte das Brot in seinen Ranzen, holte die Milch aus dem Kühlschrank und trank einen hastigen Schluck direkt aus der Tüte. Doch die Milch war sauer geworden und er spuckte sie in die Spüle.
»Berti?«
Aller Welten Qual lag in dem einen Wort.
So ein Mist!
»Morgen, Ma«, rief er. »Ich muss los, bin spät dran!« Dass das nicht der Wahrheit entsprach, würde sie nicht merken.
»Schon gut, Schatz. Du musst mir nur schnell noch meinen üblichen Gefallen tun.«
»Kann das nicht bis nach der Schule warten? Die Apotheke hat noch zu.«
»Ach, komm, Berti! Du weißt, ich brauche das Rezept und die Apotheke hat Notdienst.« Wie Bert dieses weinerliche Betteln hasste. Die Schlafzimmertür öffnete sich einen Spalt und eine kleine, hohlwangige Frau zwischen dreißig und vierzig, zwischen brünett und eisengrau, zwischen porzellanhäutig und trauerfaltig stand dahinter. Sie streckte ihm das pinkfarbene Rezept und einen Zehn-Euro-Schein hindurch.
»Okay«, maulte Bert. Aber bleib wenigstens wach, du weißt, Oma kommt am Vormittag.«
Andere Kinder hatten heute allerlei Süßigkeiten, manche sogar kleine Geschenke in ihren Schuhen vorgefunden. Berts knöchelhohe Canvasschuhe beherbergten lediglich ein Zweitpaar Socken, das er zum Schutz vor der Kälte zusätzlich anzog, bevor er seinen Anorak überwarf. Er schloss die Wohnungstür auf und rannte die Stufen der drei Stockwerke hinunter. Das Zentrum der ringförmigen Wohnsiedlung glich einer runden Insel mit ihren Geschäften, einer Arztpraxis, einem Kinderhort, einem betreuten Jugendzentrum und der Apotheke, deren Schild »Notdienst« mit der Klingel darunter tatsächlich leuchtete. Der Inhaber kannte Berts Familie und wusste, dass der Junge die Rezepte für seine Mutter abholte, da sie selbst seit dem plötzlichen Tod ihres Mannes dazu nicht mehr in der Lage war. Bert tat ihm leid. Er hätte mit seinen zwölf oder dreizehn Jahren selbst dringend Unterstützung gebraucht, aber außer seiner Großmutter schien es niemanden mehr zu geben, der sich um ihn kümmerte. Er händigte dem Jungen das Medikament in einer kleinen Papiertüte aus und steckte ihm noch einen Schokoriegel zu.
»Weil heute Nikolaus ist.« Er zwinkerte Bert verschwörerisch zu.
Bert bedankte und freute sich über die kleine Überraschung. Gierig riss er sofort das Papier ab und biss hinein. Hmm, Erdnuss und Karamell! Er schluckte gerade den letzten köstlichen Bissen herunter, als er das Treppenhaus betrat und ihm ein Mann mit Dreitagebart und kräftiger Statur in einem knallroten Winterparka entgegenkam. Belustigt stellte Bert fest, dass der Typ ebenfalls Chucks trug, die sogar noch ausgelatschter und dreckiger aussahen als seine Eigenen.
»Hi, Bert! Bis später«, grüßte der Typ im Vorbeilaufen.
Bert stutzte und sah ihm über das Treppengeländer hinterher. Woher kannte der seinen Namen? War er gerade bei seiner Mutter gewesen? Ein neuer Lehrer? Zwei Stufen auf einmal nehmend hetzte der Junge in den dritten Stock. Noch bevor er ganz oben war, bemerkte er, dass etwas auf dem Abtreter vor der Wohnungstür stand. Schuhe? War Besuch gekommen? Es waren nagelneue Schnürstiefel, aus matt glänzendem Glattleder, innen mit weichem Fell gefüttert und auf dem Klebeetikett stand Gr. 39 – genau seine Größe. Echt coole Treter! Er hob einen hoch, weil etwas darin steckte. Er zog eine dieser Fotokarten mit Lebensweisheiten heraus. Die Abbildung zeigte ein Paar mit indigenen Motiven bestickte Schuhe und den Spruch ‚Willst du jemanden verstehen, laufe einen Mond lang in seinen Mokassins.‘ Bert drehte die Karte um. In handschriftlichen Druckbuchstaben stand dort:
Hi Bert, diesen Rat werde ich keinen Monat lang durchhalten können, denn ich friere schon jetzt erbärmlich. Wenn auch du kalte Füße hast, zieh´ einfach deine neuen Boots an, und komm heute Nachmittag ins JuZ. Wir könnten zusammen zocken oder nur quatschen – ganz wie du willst. Deine Mutter ist einverstanden. Viele Grüße, Nikolas Ruprecht, Jugendpfleger.