9. Dezember
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Hausgemacht
Von Andrea Neven
Gesprochen von Karsten Wolf
Hermann kochte vor Wut. Schon wieder hatte er ein schlechtes Blatt erwischt. Er warf seine Karten auf den Tisch und ließ sich zurück auf den unbequemen Holzstuhl fallen.
»Marianne! Wo zum Teufel steckt Marianne?«, rief er, wobei er hektisch mit beiden Armen in der Luft herumfuchtelte. Seine langjährigen Skatbrüder Manni und Hein hatten den Blick ebenfalls gierig in Richtung Theke gerichtet. Die Tür zur Küche öffnete sich und Marianne, die gute Seele des Hauses, betrat den Raum.
»Mach uns noch flott drei Bier!«, sagte Hermann mit lauter, rauer Stimme. Sie nickte nur.
Jeden Sonntag das gleiche Affentheater, dachte Marianne. Sie verdrehte unbemerkt die Augen, nahm drei Gläser aus der alten Eichenholzvitrine und zapfte das Bitburger Premium Pils an.
Es dauerte nicht lange, da marschierte ein seltener Gast herein. Walter war für gewöhnlich kein Kneipengänger. Er war generell kein geselliger Typ, sondern in jeder Hinsicht ein Einzelgänger. Zwar war er immer nett und freundlich, aber fast nirgendwo zu sehen. Es sei denn, die Vorweihnachtszeit brach an und er durfte am Nikolausabend von Haus zu Haus ziehen. Er tat dies seit etlichen Jahren für die Kinder. So richtig mit Bischofsgewand, langem weißem Bart, Bischofsmütze, Bischofsstab und goldenem Buch.
»Mensch Walter, was machst du denn beim Frühschoppen?«, fragte Marianne überrascht. Die drei angetrunkenen Skatbrüder ignorierten ihn einfach.
»Ich habe schreckliches Lampenfieber und mir ist der Schnaps ausgegangen«, entgegnete Walter schnell.
Er wirkte sehr nervös und aufgewühlt. Marianne vermutete, dass dies an dem schlimmen Gerücht lag, das zurzeit die Runde machte. Angeblich hatte Walter ein kleines Mädchen auf dem Dorfspielplatz belästigt. Marianne verschwand in die Küche und kam wenig später mit einer Flasche Hausschnaps zurück.
»Hier, nimm den Guten«, sagte sie mit einem aufmunternden Lächeln.
Walter bezahlte, verstaute die Flasche in einer Stofftüte und steuerte auf den Ausgang zu. Bevor er die Tür von außen vollständig zugedrückt hatte, hörte er, dass Hermann, Manni und Hein angefangen hatten, böse über ihn herzuziehen. Walter hielt die Tür einen Spalt geöffnet und verfolgte das Gespräch.
»Jetzt ist der Drecksack fällig! Wir können nicht zulassen, dass der heute Abend einen auf Nikoläuschen macht. Ein unschuldiges Mädchen angrabschen und dann den Heiligen spielen wollen.«
»Genau, Manni, so läuft das hier nicht!«, stimmten die beiden heftig nickend zu. Marianne lauschte ebenfalls, hielt sich aber aus der Angelegenheit raus. Sie servierte wortlos ein Bier nach dem anderen.
»Sobald der sich in seiner Verkleidung auf den Weg macht, schlagen wir zu.«
Das waren die letzten Worte, die Walter unbemerkt mithörte. Er eilte nach Hause, verschanzte sich dort und überlegte, was zu tun sei. Er fürchtete sich nicht nur vor den Skatbrüdern, sondern auch vor den gehässigen Bemerkungen und den Beschimpfungen der verständnislosen Eltern. Ein Plan musste her.
Für den Fall, dass Walter mal ausfiele, gab es jemanden, der für ihn einspringen sollte. Diese Regelung bestand schon jahrelang. Wie sollten die Eltern ihren Kindern sonst erklären, warum der große Mann mit dem weißen Bart dieses Jahr nicht zu ihnen kam und Geschenke verteilte?
Walter griff zum Telefon und kontaktierte seine Vertretung. Er sprach sehr leise und baute noch täuschend echte Effekte wie einen plötzlichen Hustenanfall, Schniefnase und Heiserkeit ein. Nachdem er noch etwas von Fieber und höchster Ansteckungsgefahr erzählt hatte, willigte sein Ersatzmann ein, für Walter einzuspringen.
Die Stunden vergingen wie im Flug und alles war vorbereitet. Hermann, Manni und Hein waren bestens gewappnet. Sie hatten sich mit dicken Holzknüppeln bewaffnet und lauerten dem Nikolaus an einer dunklen Straßenecke auf.
Walters ahnungslose Vertretung zog gut gelaunt durchs Dorf. Als die drei gerade zum Angriff übergehen wollten, tauchte eine alte Omma auf dem Bürgersteig auf.
»Zurück, marsch, marsch!«, befahl Hermann sofort. Beim nächsten Versuch kam laut bellend ein Köter angelaufen. Dies zwang die Angreifer erneut zum Rückzug. Eine weitere günstige Gelegenheit blieb dummerweise aus. Da sich die Männer laufend Mut zutranken, waren sie inzwischen schon beträchtlich angeheitert.
Während der Ersatz-Nikolaus vollkommen unversehrt die Kinder besuchte, saß Walter in seinem alten Fernsehsessel und schaute sich seine Lieblingssendung an. Er war sich sicher, dass er sich für heute in Sicherheit befand. Zur Feier des Tages füllte er ein Schnapsgläschen mit dem guten Hausschnaps, prostete sich selbst zu, trank das Gläschen in einem Zug leer und starb wenig später qualvoll.
Der gute Walter hatte sich nie etwas Ernsthaftes zuschulden kommen lassen. Weder auf dem Dorfspielplatz noch sonst wo. Das Gerücht, das im Dorf die Runde gemacht hatte, war genauso hausgemacht wie der Schnaps von Marianne.
Warum ausgerechnet Marianne ihn vergiftet hatte, ist noch nicht bekannt. Vielleicht hatte sie irgendetwas gegen Walter, wovon niemand etwas wusste. Die Meinungen und Gerüchte im Dorf gehen da momentan sehr weit auseinander. Aber das ist leider nichts Neues.